Ende Oktober
Es war spät in der Nacht, als ich seelenruhig in meinem Bett schlief. Auf einmal stürmte meine Mutter splitterfasernackt ins Zimmer und brüllte mich an: „Lindsey!“
Ich setzte mich geschockt auf und starrte sie fassungslos an.
„Du wirst morgen früh gefälligst aufstehen und dir einen Job suchen!“, verlangte sie wild gestikulierend. Ihr Gesicht war voller Zorn und mit jeder Bewegung schwangen ihre schlaffen Möpse hin und her.
Ängstlich zog ich mir die Bettdecke bis zur Nase.
„Und wehe, du findest keinen, dann fliegst du raus!“, endete sie und fegte wieder hinaus.
Die Tür knallte zu, und ich erwachte aus dem Albtraum. Verwirrt strich ich durch mein schweißnasses Haar und schwor mir, am nächsten Tag einen Job zu suchen.
Muddern saß am Küchentisch und schlürfte ihren Kaffee, während sie die Zeitung las. Ich blieb am Türrahmen stehen und sah sie perplex an.
Einige Sekunden lang guckte sie wortlos zu mir. „Ist was?“
„Ich werde mir jetzt die Haare färben und danach einen Job suchen!“, klärte ich sie erbost auf. Dauernd hatte ich das Bild im Kopf, wie die Alte nackt vor mir stand, und das war entsetzlich!
Erstaunt schaute sie mich einen Moment an. „Na denn“, meinte sie nur und blickte wieder in die Zeitung.
„Genau das werde ich tun“, brummelte ich, als ich auf dem Weg ins Bad war. „Nie wieder schwarze Haare!“, fluchte ich, während ich die Farbe einmassierte. Es wäre nicht nötig gewesen, wenn mich meine beste Freundin nicht dazu überredet hätte, mir die Mähne dunkel zu färben. Ich sah aus wie ein Grufti, zumal ich ein heller Hauttyp war, und das gefiel mir überhaupt nicht. Mein Haar sollte wieder erblonden, doch nach dem ersten Versuch glich mein Kopf einer Orange.
„Ich fahre jetzt Zur Arbeit“, sagte Muddern.
Rasch öffnete ich die Tür. „Gut, und ich werde mir einen Nebenjob suchen, auch wenn ich abends noch zur Schule muss!“
Mutter schielte auf mein Haar. „Na, mit dieser Farbe wirst du höchstens einen Job als Laterne im Dunklen bekommen“, behauptete sie trocken. Sie kramte in ihrer Handtasche herum, was mir einen schockierenden Blick in ihren Ausschnitt ermöglichte. „Und das mit der Schule ist ja wohl nicht meine Schuld.“ Muddern war verwirrt. „Was ist denn heute nur los mit dir?“
„Nichts“, schwindelte ich.
„Na denn. Ich lege dir etwas Geld auf den Küchentisch, damit du dieser Katastrophe auf deiner Rübe den Kampf ansagen kannst.“
Ein zögerliches „Danke“ flog mir über die Lippen.
„Ich bin heute Abend zurück.“ Die Alte ging davon, und ich versuchte, nicht mehr an diese Quarktaschen zu denken. „Alles wird gut“, redete ich mir immer wieder ein.
Ich setzte mir eine Wollmütze auf, damit niemand das Desaster auf meinem Kopf sehen konnte. Zum Glück war es draußen kühl und nass. Die Jobsuche konnte also beginnen. Da ich in der Innenstadt wohnte, konnte ich eine Menge Geschäfte nacheinander aufsuchen, ohne weit laufen zu müssen. Einen Laden nach dem anderen klapperte ich ab, doch immer wieder hörte ich die gleichen Sätze: „Tut uns wirklich leid, aber wir suchen keine Aushilfen.“
Alle Geschäfte in der City hatte ich aufgesucht, einen Job hatte ich trotzdem nicht bekommen. Was soll´s, dachte ich mir und lief zu einem der größten Spielzeugläden weit und breit: Fantasy. Das Geschäft befand sich etwas außerhalb der Stadt und es dauerte rund eine halbe Stunde, bis ich es erreichte. Bei Fantasy angekommen, musste ich vor Aufregung erst einmal eine Zigarette rauchen. Zwar rechnete ich mit einer Absage, doch der Versuch macht ja bekanntlich klug. Ich betrat den gigantischen Laden und war erst einmal platt. Nicht, dass ich zuvor nie dort gewesen wäre, aber in diesem Moment kam mir alles irgendwie viel größer vor. Ich überlegte, wen ich fragen könnte, und ging zur Info. Dort lächelte mich auch schon eine Mitarbeiterin freundlich an. Wir unterhielten uns kurz und prompt griff sie zum Hörer, um mit jemandem zu telefonieren. Sie erklärte mir den Weg und zeigte zu einem Eingang, der sich zwischen den Regalen mit den Computerspielen befand. Auf direktem Wege ging ich hindurch und folgte der Anweisung, die sie mir gegeben hatte. Früher hätte ich mir nie vorstellen können, bei Fantasy zu arbeiten, aber ich wollte unbedingt Geld verdienen – vor allem, damit sich solch ein Albtraum wie in der Nacht zuvor nicht noch einmal wiederholte. Ich lief durch einen kalten Gang und blickte zu einer Treppe, die sich auf der rechten Seite befand. Dort musste ich hin. Ich ging die Stufen zur offenstehenden Tür hinauf und klopfte an. Neugierig schielte ich in das Büro, das ziemlich chaotisch aussah. Ein Mann saß mit dem Rücken zu mir und durchforstete seine Papiere, die auf dem Schreibtisch verteilt waren. Erneut klopfte ich an.
„Moment, Moment!“, sagte er etwas unfreundlich und drehte sich kurz darauf zu mir um. „Ja, bitte?!“
„Hallo, mein Name ist Lindsey Selkca und ich sollte zu Ihnen kommen.“
„Wegen des Jobs?“, fragte er derb.
„Ja, wegen …“
„Komm rein und setz dich!“ Erneut schaute er in seine Unterlagen. Anscheinend war er total gestresst. Vielleicht hatte er deswegen so wenige Haare auf dem Kopf?
Ich pflanzte mich ihm gegenüber.
„Ja, wir suchen aktuell noch Aushilfen auf Teilzeit. Morgens von sechs bis zehn Uhr. 6,50 Euro die Stunde“, erklärte er. „Du bist noch Schüler?“
Scheiße, schwitzte ich, was aber auch kein Wunder war, da ich die Mütze nicht abgenommen hatte. Wäre mir einfach zu peinlich gewesen. „Ja, ich gehe auf die Abendschule.“
„Perfekt. Schon mal im Lager gearbeitet?“
„Ja, schon öfter.“
„Wo zum Beispiel?“
„Im Baumarkt, am Kiosk und so.“ Und so bedeutete in diesem Fall: Das war´s dann auch schon.
„Perfekt. Sie können auch Überstunden machen, was aber wohl nicht nötig sein wird.“
„Also jeden Tag vier Stunden?“
„Genau. Wären 26 Euro pro Tag.“
Sofort rechnete ich im Kopf aus, wie viel ich netto besitzen würde. Steuern fielen zum Glück nicht an. Zigaretten, Trinken, Essen … perfekt!
„Dann benötige ich einmal Ihren Ausweis.“
„Sehr gern.“ Ich überreichte ihm meinen Ausweis. Es ging alles voll easy und total schnell. Zügig war auch der Vertrag unterschrieben. Es war mein erster Arbeitsvertrag. Zwar befristet, aber es war besser als gar nichts. Glücklich verabschiedete ich mich und ging hocherfreut nach Hause. Meine Alte wird doof aus der Wäsche gucken, freute ich mich im Geiste, doch das tat sie nicht, als ich ihr den Vertrag unter die Nase hielt.
„Das finde ich echt toll“, sagte sie sonnig. „Wirklich. Endlich scheinst du mal etwas aus deinem Leben zu machen.“ Warum war Mutter seit der Trennung von ihrem Mann nur so nett? Früher war sie anders gewesen. Damals hatte sie der Frau geähnelt, die mir im Traum einen Schrecken eingejagt hatte. So viel Freundlichkeit war mir völlig fremd.
Später traf ich mich mit meiner besten Freundin, der Diana. Diana war etwas fülliger, hatte lange, braune Haare, die sie oft hell zu färben versuchte, was aber nie so klappte, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie ging wie ich auf eine Abendschule – nur nicht auf dieselbe. Diana wohnte nicht in derselben Stadt, hatte es aber nie weit bis zu mir. Sie war die Einzige, die wusste, dass ich schwul war. Schon immer hatte sie an meiner angeblichen Heterosexualität gezweifelt. Erst im Sommer hatte sie mir gebeichtet, selbst bisexuell zu sein. Was für ein Schock das doch gewesen war! Ernsthaft: Das hatte ich auch schon vorher gewusst. Ich meine, so, wie Diana von Britney Spears geschwärmt hatte, war das eigentlich kein bisschen überraschend.
Kurz darauf gestand ich ihr dann, homosexuell zu sein. Sie schmunzelte und sagte: „Ich habe es die ganze Zeit über gewusst!“ Sie war freundlich und nicht beleidigend, ließ sich darauf nur einige Tage nicht blicken. Wieso? In einem Brief schrieb sie mir, dass sie sich ein wenig in mich verguckt hätte und das erst einmal verarbeiten müsste. Es dauerte allerdings nicht lange, bis sie wieder angedackelt kam. Besten Freunden kann man eben nie wirklich böse sein. Es sei denn, man hat echt Scheiße gebaut oder so. Wie auch immer. Diana versprach mir, mit niemandem über mein Geheimnis zu reden. Ihr vertraute ich blind.
Diana saß auf der Treppe einer Kirche. Oft gammelten wir dort herum und klagten über unser Leben. Manchmal lästerten wir auch. Okay, zugegeben: Wir taten es oft – sehr oft. Doch beleidigten wir keine Menschen. Sich im Leisen über manche Personen lustig machen – ja, aber niemals laut. Wenn jemand behauptet, er tue es nicht, lügt er.
„Hey!“, rief ich.
„Lindsey!“, freute sie sich und zog an ihrer selbst gedrehten Zigarette. Da ich sie ununterbrochen angrinste, fragte sie rasch: „Wieso guckst du mich so dämonisch an?!“
„Ich“, verkündete ich mit Spannung in der Stimme und hockte mich neben sie, „habe einen Job!“
„Laber!“, staunte sie. „Ich auch!“
„Ohne Scheiß?!“
„Voll ohne Scheiß!“
„Geil, und wo?“
„Fantasy.“
Für einen Moment war ich sprachlos. So wirklich wollte und konnte ich das nicht wahrhaben. „Jetzt ehrlich?“
„Ja, wieso? Wo hast du denn einen gefunden?“
„Fantasy“, antwortete ich.
Mit großen Augen gaffte sie mich an. Ihr Mund öffnete sich immer weiter. „Du verarschst mich?!“
„Nein“, widersprach ich und kramte nach dem Vertrag, den ich gefaltet in meiner Jeanstasche aufbewahrte. „Hier.“ Ich zeigte ihr meinen, und sie durchwühlte schnell ihre Umhängetasche, um mir ihren zu zeigen.
„Abgefahren!“, sagte ich, als ich den Vertrag durchlas. Wir sahen einander an und hüpften dann euphorisch auf und ab.
„Sag mal“, überlegte Diana und starrte mir auf die Wange. „Hast du versucht, dir die Haare zu färben?“
Ich zögerte, doch plötzlich riss Diana mir die Mütze ab. Laut gackerte sie drauflos. „Lach nicht!“, maulte ich. „Ist doch nur deine Schuld.“
„Das sieht so scheiße aus!“
„Weiß ich selbst“, murrte ich und nahm die Mütze wieder an mich, um sie zügig aufzusetzen.
„Sieh bloß zu, dass das bis zum ersten Arbeitstag wieder normal aussieht. Man muss sich ja sonst deinetwegen schämen.“
Fick dich doch, du Fotze, dachte ich nur noch. Diana war meine beste Freundin – ja, aber manchmal hätte ich sie erschlagen können. Oft tat sie so, als ob sie etwas Besonderes wäre. War sie aber nicht! Ihre Fingernägel waren bis zum Gehtnichtmehr abgeknabbert, aus dem Mund roch sie oft nach Kuhmist, einer ihrer Frontzähne war schwarz verfärbt, die Nase erinnerte an die einer Hexe und ihr Hintern war so breit, dass es mich wunderte, wie ein zweiter Passagier im Bus neben ihr Platz nehmen konnte. Aber so etwas sagt man dem besten Freund ja nicht – oder doch? Scheiß drauf! Wie oft hatte Diana sich über mein Aussehen lustig gemacht. Entweder waren es Scherze über mein leichtes Untergewicht, über meine Ohren, die etwas abstanden, oder über meine Haut, auf der sich hin und wieder die Pickel zum Urlaub trafen.
Diana stand auf und lief vor mir her.
Ich konnte nicht anders: „Hey, Diana!“
Gespannt drehte sie sich zu mir um. „Ja?“
„Ich sehe deine Oberschenkel nicht mehr – dein Arsch ist so breit.“
Wütend stampfte sie davon, während ich mir einen ablachte.